2020 Ungarn


10.08.2020 - 23.08.2020

Alexander Strauß, Andreas Schantz


Trotz Corona-Krise war es wieder soweit – die Clowns ohne Grenzen konnten, auf Einladung des TeatRom-Festival, eine Tour zu den Roma in Nordost-Ungarn organisieren. Alle Berichte und Eindrücke findet ihr hier im Blog und über unseren Facebook-Kanal.

Itinerary Date :20.08.2020

Viki und die "starken Männer"

14.08.2020

Viki, unsere wunderbare Logistikerin und Übersetzerin, die uns auf der Tour begleitet, gibt uns einen Überblick über die Situation vor Ort. Sie selbst arbeitet als eine der starken Frauen für die Organisation InDaHouse, die letztes Jahr vor Ort begonnen hat, sich um die Kinder umliegender Dörfer mit Unterricht und anderen Unterstützungen zu kümmern. Sie erzählt uns, in Ungarn leben nach Schätzung etwa 800000 Cigány, zugehörig sind sie zu drei Stämmen: Die meisten gehören dem offiziell „Rom-Ungro“ genannten Stamm an, einer Volksgruppe, die vor etwa 300 Jahren einwanderte. Maria Theresia höchstpersönlich setzte es auf die Tagesordnung, die damals einwandernden Völker sesshaft zu machen, zu assimilieren und sie ihrer Kultur und Sprache zu berauben. Jedoch nicht nur das, sie schränkte auch Eheschließungen ein und verfügte, Kinder der Rom-Ungro von ihren Eltern zu trennen um sie zur Adoption freigeben zu lassen. Nur: wer lässt sich schon sesshaft machen, wenn er als Konsequenz davon ausgehen kann, seine Kinder zu verlieren?

Der zweite Stamm sind die Olah, die nahe der ukrainischen Grenze leben und es geschafft haben, immer noch eine sehr starke Identität in Bezug auf Sprache, Tradition und Kultur zu behalten und ein starkes und stolzes Erbe als Olah- Cigány zu leben. Sie sprechen den Lovari-Dialekt, aus dem das Wort Rom/Roma – Mann/Menschen entlehnt wurde, das zur offiziellen Verwendung von „Roma“ führte.

Die dritte Gruppe sind die Beas in den Grenzgebieten zu Rumänien, woher sie einwanderten. Noch vor 50-60 Jahren lebten in kommunistischer Zeit Teile dieses Stammes wie Sklaven in Rumänien – auch sie haben noch immer eine sehr archaische Sprache und Traditionen behalten.

Bei allen Unterschieden zwischen den Stämmen (und weiteren in der Ukraine und in Südosteuropa) haben sie eines gemeinsam. Sie nennen sich selbst Cigány.

Passend zur Tour wird – meanwhile in Germany – über die Umbenennung von Zigeunersauce in Soße ungarischer Art diskutiert. Wer im selben Moment „mitten drin steht, oder zwischen drin“, kann das eigentlich nur absurd finden. Wenn Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma kommentiert, dass eine solche Debatte keine oberste Dringlichkeit hat, kann man ihm nur Recht geben. Jeder kann sich hier vor Ort persönlich überzeugen, was wirklich dringlich wäre. Die Sinti-Allianz Deutschland äußert sich im übrigen ähnlich: „Sofern der Begriff wertfrei verwendet werde, könne man mangels eines von allen Zigeunervölkern akzeptierten neutralen Überbegriffs „auf die eineinhalbtausend Jahre alte historische Bezeichnung Zigeuner“ nicht verzichten.“

Wir also mittedrin, aber nicht nur schwächeln die „starken Männer“ heute etwas; die Müdigkeit hat sich doch deutlich akkumuliert; auch unser „Bergfest“ fällt heute aufgrund der starken Regenfälle ins Wasser, eine der beiden Shows verschieben wir erst auf den späten Nachmittag, um sie dann erneut verschieben zu müssen – auf den letzten Spieltag. Immerhin kann die Show in Mera, wenn auch indoor, stattfinden – und sie wird ganz anders als die Bisherigen. Im Publikum haben wir nur ein paar wenige der ganz jungen Kinder, alle anderen sind im Alter von 14 aufwärts oder schon erwachsen. Viele Reaktionen fallen heute ganz anders aus und die auf Interaktion mit den jüngeren Kindern ausgelegten Szenen zünden nicht immer; somit wird es deutlich schwieriger, im Schwung der Show zu surfen. Immerhin: wir beißen uns durch. Der Vorteil an diesem Publikum wiederum ist, dass die Frage- und Gesprächsrunde, die wir immer wieder am Ende der Show anbieten, sehr lebendig wird; es kommen Fragen und Anerkennung von den Zuschauern und wir erzählen einiges über unsere Arbeit und Motivation, für die Kinder zu spielen.

Alex

Schatten-Gewächse

15.08.2020

Heute machen wir uns auf nach Felsővadász. Der Ort liegt in einem schönen Tal umrandet von viel Wald. Wir hängen unseren Vorhang in einem Park zwischen zwei Bäume. Herrlicher Schatten in dampfiger Frühmittagshitze, jedoch auch noch tiefer Boden von den Regenfällen – unser Stuhl, heimlicher eigentlicher Star der Show, verhält sich heute wie in einer Moorlandschaft. Unser Publikum, etwa sechzig aufgeweckte Kinder, sitzt auf einer Steinbühne und amüsiert sich.

Man erzählt uns, die Gegend hier wurde vierundzwanzig Jahre lang von Kräften regiert, die die Cigány stark unterdrückten. Das ist schwer zu verstehen, denn die Cigány hier im Ort stellen zwei Drittel der Bevölkerung da, und neunzig Prozent der Menschen sind unter zwanzig Jahre alt. Die neue Lokalregierung ist zum Glück moderater.

Nach uns spielen zwei Kollegen im Saal des Gemeindehauses eine wunderbare Mischung aus Schauspiel, Musik und Puppentheater. Das Festival ist ein kleines Wunder, mitten in einer Zeit, wo so viel Kultur in der Warteschlange steht oder dahinvegetiert, blüht es hier an vielen kleinen Plätzen. Es ist höchste Zeit sich hier bei den vielen freiwilligen und professionellen Helfern zu bedanken, die das ganze überhaupt ermöglichen. Und speziell bei Viki, unserer Logistikerin und Balazs Simon, der mit seinem unkonventionellen und mutigen Ideenreichtum das ganze ins Rollen gebracht hat.

Doch schon bald müssen wir weiter zu unserem zweiten Spielort. Der Ort heißt Fullókércs und ist eine gut entwickelte Siedlung. Dies ist einem Cigány-Bürgermeister zu verdanken, der sich intensiv um die Landwirtschaft kümmert.

Hier haben wir Gelegenheit, zum zweiten Mal unseren Kollegen aus dem letzten Dorf im Saal zuzuschauen. Danach hängen wir wieder unseren Vorhang zwischen zwei Bäume in einem großen Garten hinter dem Gemeindehaus. Auch hier ist bester Schatten für alle geboten. Wiederum mit Moorlandschafts-Flair, wenn auch nicht ganz so ausgiebig wie am späten Vormittag. Es wird unsere bislang bezauberndste Vorstellung für etwa 50 Menschen, die von Anfang an konzentriert unseren Verrücktheiten folgen und unbedingt noch eine Zugabe sehen wollen, die wir zum Glück im Gepäck haben.

Schon auf dem Rückweg zum Hotel bemerken wir deutlich, dass wir nun schon eine Zeit lang unterwegs sind. Heute ist unser fünfter Spieltag und die wieder deutlich spürbare Hitze war nicht zu ignorieren. Zwei Tage mit vier Shows liegen noch vor uns. Viele Eindrücke, und doch gerade erst angekommen, wir sind mitten zwischen drinnen.

Finally - Lost in Space

16.08.2020

Um 10.00 Uhr soll die erste Vorführung sein. In Lyukobanya, einer ehemaligen Wochenendsiedlung im Westen von Miskolc. Inzwischen sind die Gartenhäuschen von einst in erbärmlichem Zustand und wird von einer etwa 3.000 Kopf zählenden Cigány Community bewohnt.

Wir sind heute zum ersten Mal ohne Viki unterwegs, da sie dringende Arbeiten in ihrer Organisation besorgen muss. Dies auch der Grund, dass wir heute keine Fotos unserer Show haben, sondern selbst im Lauf des Tages Stimmungen einfangen. Nach einer Stunde Fahrt sind wir am Ortsschild von Lyukobanya, wir durchqueren die Ortschaft ohne auf irgendein Zeichen von einer größeren Ansiedlung zu treffen. Zweimal machen wir noch den Weg zwischen Ortseingang und Ortsende. Ratlos sind wir. Endlich erreichen wir Balazs am Telefon, aus der Ferne kann er uns auch keinen Rat geben, die Lage bleibt unklar, er gibt uns die Telefonnummer von einem Mitarbeiter des Malta Centers, in welchem wir auftreten sollen. Wir erreichen unseren Ansprechpartner Gabor, doch auch er versteht nicht wo wir sind. Endlich treffen wir einen Arbeiter in der fast unbewohnt wirkenden Ansiedlung. Wir halten ihm das Telefon mit Gabor am anderen Ende hin. Nach kurzem Gespräch gibt er mir das Telefon zurück und sagt in gebrochenen Deutsch: „Zurück! Zwei Kilometer, links Malta“

Kurz darauf sind wir am Malta Center welches eben zwei Kilometer vor Lyukobanya von uns auf der Hinfahrt übersehen worden ist.

Die Kinder warten schon, wir sind der Beginn des Programms und nun schon etwas spät dran. Flott installieren wir den Vorhang zwischen zwei Säulen des Hauses, Stühle und Bänke für die Zuschauer sind schon vorbereitet. Zehn Minuten später stehen wir auf der Bühne und streiten gekonnt um Stuhl, Luftballon und die Gunst des Publikums.

In der ersten Reihe, links außen, sitzen zehn Kinder, sie sind Mitglieder einer Theatergruppe aus Alsóvadász wo sie uns schon gesehen haben, sie begrüßen uns lässig mit Paprika und Hagyma, unseren Clownsnamen. Nach unserem Auftritt vor etwa 70 Zuschauern zeigen sie ihre Darbietung.

Ihre Performance spiegelt auf humorvolle und nachdenkliche Weise ihren eigenen Alltag, das Leben in der Cigány-Kultur.

Anschließend kommt noch eine Hexe, eine Zofe und ein Barde auf Bühne. Das Trio erzählt und besingt ein Märchen.

Mit der Hexe unterhielt ich mich zuvor in der Garderobe, da hieß sie noch Yvette Feuer und erzählte mir eine andere Geschichte. Nämlich das Feuer ein jüdischer Name ist, beziehungsweise, dass viele Juden in Ungarn im 19. Jahrhundert ihre jüdischen Namen auf Verordnung von Kaiser Franz Josef in deutsche Namen ändern mussten, da Deutsch die Amtssprache war. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie die Staatsgewalt mal dezent und mal wuchtig zuschlägt. „Wer regiert hat recht“, egal was er tut.

Für uns ist es wieder Zeit weiter zu reisen. Gabor fährt uns voraus, damit wir nicht wieder irgendwo landen. Die nächste Station ist nicht weit. Ein paar Kilometer weiter finden wir uns wieder am Rand von Miskolc in einer Siedlung.

Sie heißt „die nummerierten Straßen“. Die Straßen haben hier keine Namen, sondern Nummern. Hier lebten früher die Arbeiter der Stahlindustrie, von der sind noch mächtige Ruinen übrig. Die Hälfte dieser Straßen sind schon dem Bau eines Fußballstadions zum Opfer gefallen. Ein weiterer Teil soll einem Busbahnhof weichen. Es gibt hier Räumungskommandos, deren Aufgabe ist es die Häuser, in denen keiner mehr wohnt unbewohnbar zu machen, es werden einfach die Tür- und Fensterstöcke rausgerissen. Wer hier noch wohnt ist nicht schwer zu erraten. Es sind Cigány Familien, die sich hier für wenig Geld in den städtischen Häusern eingemietet haben. Wer nicht mehr zahlen kann, muss gehen. Andere werden mit Abfindungen gelockt und wissen dann oft auch nicht wohin. Die kanadische Regierung gab diesen Leuten hier sogar teilweise Asyl, ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im März 2015 zu lesen. Was nicht in der Zeitung steht, uns aber später erzählt wurde, ist der Umstand, dass die Cigány mittlerweile aus Kanada schon wieder ausgewiesen wurden.

Wir werden hier schon von Balazs in einer weiteren Station der Malta (Malteser) erwartet, die sich hier um die Belange dieser oft ungeliebten Minderheit kümmert.

Viki sagte einmal die Tage: „Wenn man jemandem oft genug sagt, dass er nichts wert ist, dann glaubt er es irgendwann.“ Das trifft sicher nicht auf alle Cigány zu, doch es ist ein wirksames Mittel im Umgang mit Minderheiten, um diese an den Rand zu drängen. Und dann? Wo sollen die Menschen denn hin? Sich in Luft auflösen?

Zusammen mit Balazs finden wir einen guten Platz für unsere Aufführung, mal wieder zwischen zwei alten Bäumen. Wir fahren noch Bänke und Stühle aus dem Malta Center hin. Bevor wir spielen folgen die Kinder aus den nummerierten Straßen noch dem Walkact einer neunköpfigen Performance Gruppe aus Budapest.

Dann sind wir wieder Paprika und Hagyma. Es sind vielleicht 80 Leute vor dem Vorhang. Diesmal ist es vor allem das Lachen einiger recht betagten Damen und Herren, das uns besonders Nahe geht.

Nach uns spielt noch eine junge Theatergruppe aus der Gegend. Als sie fertig sind hängen wir den Vorhang ab und der Platz ist wie zuvor. Wirklich? Ist hier nichts geschehen?

Und wieder Richtung Hotel, rasten, schreiben, essen, schreiben, schlafen. Morgen erwarten uns die zwei letzten Auftritte auf diesem liebenswerten TeatRom Festival.

Zu den Roma / Cigány in Ungarn

17.08.2020

Anfang März 2020 hat der Vorstand von Clowns ohne Grenzen sämtliche anstehenden Reisen erst mal mit Fragezeichen versehen und dann nach und nach bedingt durch die nationale und internationale Unsicherheit aufgrund von Covid 19 abgesagt.
Den meisten darstellenden Künstlern wurde durch den selben Grund ein kollektives daheim bleiben vom Staat verordnet.
Das Verhalten unserer Regierung machte auf mich den Eindruck als sei Kultur etwas was man aus- und einschalten kann je nach Bedarf.
Umso mehr freute es mich, als eine Anfrage von meinem ungarischen Freund Balazs Simon an die Tür klopfte. Er lud mich ein auf einem Festival in und um Miskolc, das etwa 200 Kilometer im Nordosten von Budapest liegt zu spielen. Das Festival heißt TeatRom und ist der Kultur und der Kunst der Roma gewidmet.
Nach kurzem Nicht-Wissen wusste ich, dies ist eine Reise für die Clowns ohne Grenzen, da es um eine Minderheit in Not geht. Not heißt in diesem Falle das die Ethnie der Roma, beziehungsweise der Cigány, zum beträchtlichen Teil am äußeren Rand der Gesellschaft lebt.

Um möglichst flexibel dem ganzen bewegten Weltgeschehen entgegen zu treten entschlossen wir, Alex und ich, uns zu zweit zu reisen.
Da Ungarn ein EU-Land ist und keine Reisewarnung besteht, ist die Reise dorthin unbedenklich.
Von Seiten des Festivals wurde uns versichert, dass die ungarischen Covid 19 Bestimmungen befolgt werden.
Unser Auftrag ist nicht nur im festen Rahmen des Festivals zu spielen, welches in vielen verschiedenen Dörfern und Städten stattfindet, sondern auch in den vergessenen Dörfern, die weit ab vom Schuss sind.

Diese Woche probten wir und gestern fuhren wir mit dem Auto, offenen Fenstern und feiner Reiselaune in gut zwölf Stunden nach Halmaj nahe Miskolc, wo wir die ersten zwei Nächte verbringen werden. Besonders zu erwähnen ist unser Abendbrot, das wir in einer Pizzeria in Halmaj bei voller Beschallung mit modernstem Disco-House-Dub-Sound einnahmen.

Nach einem hin und her entschlossen wir uns, die Roma in unserem Blog Cigány zu nennen, aus dem einfachen Grund, da sie sich hier selbst so nennen. „Cigány”, auf ungarisch „Zigeuner”, ist kein verdächtiges oder diskriminierendes Wort, versicherte mir ein Cigány auf der Eröffnungskonferenz des TeatRom-Festivals in Miskolc. „Roma“ ist für die Cigány ein Kunstwort und bedeutet in ihrer Sprache einfach „Mann”. Wir wollen mit unserem Entschluß nicht provozieren, sondern den Menschen den Namen erhalten, mit dem sie sich identifizieren. In Deutschland ist „Zigeuner” wohl nicht das richtige Wort, da sich die Roma und Sinti dadurch diskrimminiert fühlen, hier ist es anders. Allerdings muß noch gesagt werden, dass in Ungarn die offizielle Bezeichnung ebenfalls „Roma” ist. Wir werden in weiteren Blogbeiträgen noch genauer darauf eingehen.

Hier ist ein kurzer Überblick zur Lage und der Geschichte der ungarischen Cigány:
In Ungarn gibt es in etwa 600.000 bis 1.000.000 Menschen, die sich selbst zu den Cigány zählen.
Die Zahlen sind unklar, da diese Ethnie inzwischen unter der Diskriminierung leidet und sich aus diesem Grund viele nicht mehr trauen ihre Zugehörigkeit zu veröffentlichen.
Seit dem 15. Jahrhundert besiedeln die Cigány das ungarische Gebiet. Ihr Ansehen war, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, gut. Sie bereicherten die ungarische Kultur als Pferdezüchter, Handwerker und natürlich mit ihrer Musik. Erst im 18. Jahrhundert wurden sie zunehmend zwangsumgesiedelt und stigmatisiert. Während des 2. Weltkriegs wurden etwa 30.000 ungarische Cigány in Konzentrationslager deportiert, nur 4.000 kamen zurück. Die letzte direkte Gewaltwelle war 2008/09 durch die paramilitärische Bewegung Magyar Garda (Ungarische Garde) ausgelöst, die inzwischen verboten sind. Sie marschierten durch Dörfer mit hohem Cigány-Anteil und verbreiteten Schrecken und ermordeten insgesamt sechs Menschen.

Heute sind wir eingeladen auf der Konferenz im Rathaus von Miskolc teilzunehmen, die das Festival eröffnet. Dort haben wir Gelegenheit für Gespräche und die Idee der Clowns ohne Grenzen vorzustellen. Wir erfahren folgendes: Die Cigány werden hier oft ungerecht behandelt und viele finden sich am armen Rand der Gesellschaft wieder. Die meisten Cigány leben hier schon seit Generationen und während des Sozialismus war es normal für sie angestellt zu werden und einfach ein Teil der Gesellschaft zu sein. Zu dieser Zeit wurde auch bunt untereinander geheiratet. Seit der zunehmenden Privatisierung und vor allem in den letzten Jahren wird es immer schwieriger für sie eine Arbeit zu finden. Ihre Kinder verlieren mehr und mehr den Zugang zur Bildung, ganze Dörfer und Stadtviertel werden zu sozialen Brennpunkten.
Es gibt hier eine offensichtliche Widerspiegelung der Tendenz, die sich weltweit verstärkt: Extremer Reichtum auf der einen Seite und die Verbreitung von Armut mit all ihren Folgen auf der anderen. Diese Seite bekommen oft Minderheiten zuerst zu spüren. Je nach Regierung stehen die Staaten dem machtlos gegenüber oder befeuern sogar den Prozess.

Wir freuen uns schon riesig, als Hagyma (Zwiebel) und Paprika für die Menschen hier zu spielen!

Andreas

Halbstarke Haudegen am Wespennest

17.08.2020

Während sich in Deutschland schlaue Köpfe AHA-Formeln ausdenken, um das Volk in sozialer Distanz zu halten, scheint es vor Ort eher sowas wie eine ARA-Formel zu sein, die für unüberbrückbare Distanzen sorgt. Übersetzen könnte man sie in etwa mit: Ausgrenzung – Rassismus – Alltagsgewalt. Angst machen ist hoch im Kurs dieser Tage. Hüben wie drüben.

Kleines Beispiel gefällig? Unter die Decke eines kleinen beschaulichen Dorfs namens Hernadszentandras geschaut, lässt sich in Erfahrung bringen, dass die Bewohner vor keinem Unsinn zurückschrecken, um die ein paar Kilometer weiter lebenden Cigány zu diskreditieren. Nicht nur, dass sie „roh und gewalttätig“ seien ist Konsens, sondern sie erzählen allen Ernstes ihren Kindern sogar, dass die Cigany Kannibalen sind.

Natürlich sind wir alle Teil dieses Problems und leben die Problematik im deutschen Sprachraum genauso wie in Ungarn, dem Rest von Europa, den USA sowieso und weltweit ebenfalls. Oder anders gesagt: Dass nicht alle Ungarn so sind, liegt auf der Hand und muss man sicher nicht betonen. Wir sind wiederum selber von den Kreisläufen der Diskreditierung insofern betroffen, dass wir im Lauf der Woche bei jeder zweiten Show auf Kinder getroffen sind, die Angst vor Pennywise hatten und befürchteten, dass „Es“ nun höchstpersönlich das Dorf heimsucht. Angst haben ist hoch im Kurs dieser Tage.

Beim Frühstück hatten wir uns noch über die Frage unterhalten, ob ein Besuch bei den Cigány (egal in welchem Land) automatisch dazu führt, in einem Wespennest zu stochern und die Finger auf wunde Punkte zu legen. Die Geschichte der Stigmatisierung, soziale Ungerechtigkeiten und ihre krisenhaften Folgewirkungen lassen sich vor Ort auf Schritt und Tritt erleben. So auch in Szikszo, unserem heutigen ersten Spielort, in dem wir in einem Hof einer sehr netten Familie gastieren und eine schweißtreibende Show für gut 50 Kinder spielen.

Als vor nicht allzu langer Zeit eine Umfrage unter jugendlichen Schülern im Ort gemacht wurde, welche Ideen für Zukunftsplanung und Berufswünsche sie denn hätten, war auf einem der Antwortbögen zu lesen: „Drogendealer“. Was so beeindruckend absurd anmutet, kommt aber nicht von ungefähr. Der kleine Ort gilt als bedeutender Umschlagplatz für Suchtmittel aller Arten. Welche möglichen Probleme damit einhergehen, ist hinlänglich bekannt.

Und dann war es da, das Wespennest. Kaum hatten wir den Vorhang zwischen Zaun und Hausdach gehängt, entdeckten wir es, am Rand des Daches unter dem Wellblech. Somit war klar, an dieser Ecke der Bühne doch etwas umsichtiger zu Werke zu gehen.  Die wie zu erwarten gute Nachricht: Natürlich haben wir dann in Encs-Fügöd keine gewalttätigen Kannibalen getroffen, sondern eine lebendige und aufgeweckte Gemeinschaft, die uns herzlich willkommen geheißen hat und für die wir unsere Abschiedsshow spielen durften. Die etwa 120 Zuschauer waren vom Alter her völlig gemischt, und wieder berührend war, wie sehr alle mit den beiden Halbstarken oder Haudegen mitgefiebert haben. Rivalität, Freundschaft, Sabotage und versöhnender Zusammenhalt, das hatten wir mit der Show im Gepäck, und auch die Wespen nahmen es entspannt humorvoll.

Somit; Grande Finale – wenn auch Tag der Hitzeschlachten – war die letzte diesmal für mich die schönste Show, lebendig, dicht, fokussiert, zwei Clowns im Puls mit den Cigány lachend und feiernd.

Wann kommt ihr wieder zurück?

18.08.2020

Gestern noch hatte ich auf der Präsentation erzählt, dass diese Frage die Geburtsstunde der Clowns ohne Grenzen einläutete – 1993 in den Flüchtlingslagern auf der Insel Istrien – und heute wurde sie uns von den Kindern gestellt. Wir besuchen die Dörfer Pere und Rásonysápberencs im Herzen des Komitats Borsod-Abaúj-Zemplén – mangels Frühstück vor der Premiere lässt sich die Ortsbeschreibung umso besser auf der Zunge zergehen. Im Vorfeld wurde uns gesagt, dass wir in den nächsten Tagen die allesamt in dieser Region liegenden ärmsten Dörfer Ungarns besuchen werden.

Ich frage mich – woran macht man eine solche Klassifizierung fest? Gerade frisch angekommen wäre ein erstes Indiz vielleicht der Zustand der Straßen; von der Hauptstraße Richtung Slowakei abbiegend ist deutlich abbremsen sofort angeraten, sofern man nicht jedes Schlagloch in die Biografie des Wagens eingravieren will. Wir bekommen zu hören, dass sich mit Ausbessern der Schlaglöcher kein Geld verdienen lässt; Zuschüsse seitens der EU werden wohl nur für den Neubau der Transitrouten ausgelobt. Wir sind sicher, im Lauf der Tage weit mehr über die Facetten der Armut zu erfahren.

In Pere spielen wir am hinteren Dorfrand vor etwa 30 Kindern; wir wurden angekündigt, dennoch dauert es eine längere Weile, zu Fuß durchs Dorf die recht aufgeweckte Kinderschar einzusammeln; und wie schön, sie gleich voll auf Sendung zu erleben; sie versuchen ihr bestes, die Clowns bei deren Fehlern auf die richtige Spur zu bringen und prusten drauflos wenn es allzu absurd wird. Wir haben das Glück, die Show, die sich im Lauf der Tage noch einspielen muss, mit einem perfekten Premierenpublikum zu teilen, das auch nach der Show mit uns blieben will. Vor allem die Jungs zeigen uns begeistert, wie cool sie sind. Sie entern das Auto und beschließen, mit uns auf Tour zu fahren.

Die zweite Show, für etwa 80 Zuschauer, findet vor einer der Bühnen statt, die im Lauf der Woche im Rahmen des Festivals in verschiedenen Dörfern aufgebaut wird, um verschiedenen Künstlern der Cigány-Kultur eine Plattform zu ermöglichen. Eine lustig-bunte Mischung an Zuschauern von 1-88 Jahren scheint versammelt, und auch hier macht es richtig Spaß, für alle zu spielen: nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen schalten sich sofort laut und aktiv dazu, wenn es darum gilt, die Fehler der Clowns zu kommentieren – für mich insofern eine eher ungewohnte Erfahrung, da sich die Erwachsenen ja gerne langsamer aus der Reserve locken lassen.

Alex

Auf Boder-Line-Tour

19.08.2020

Irota ist Ungarn, Szakacsi ist nicht Ungarn. Dieser einfache Satz, von den hier lebenden Ungarn selbst auf den Punkt gebracht und kolportiert von Elizabeth, die seit 20 Jahren hier lebt und sich für die Belange der Cigány einsetzt, bezieht sich auf zwei Dörfer, die 2,5 km voneinander entfernt sind. Er beschreibt sehr treffend, wie sich die unsichtbaren Grenzen und (Ohn-)Machtverhältnisse der Volksgruppen vor Ort ausdrücken. Elizabeth erzählt uns auch von der Mordserie an Cigány in Ungarn 2008-2009. Als die ultrarechte Gruppe, verantwortlich für diese Verbrechen, bereits auf dem Weg nach Szakacsi war, retteten zwei Umstände den Bewohnern das Leben: Zum einen hatte jemand das Straßenschild zum Dorf an der Abzweigung abmontiert, zum anderen hatte die damalige Bürgermeisterin vergessen, die Stromrechnung zu bezahlen, was dazu führte, dass das Dorf unsichtbar in Dunkelheit getaucht war. Die rechtsextreme Gruppierung zog die Straße geradeaus weiter in ein ohnehin von eher nationalistisch Gesinnten bewohntes anderes Dorf in dem es nur hieß: „Was wollt ihr denn hier?“
Auf dem Heimweg stelle ich mir aber dann doch eine Frage: Wenn es nicht Ungarn ist, wie heißt dann das Land in dem wir nun täglich unterwegs sind? Cigánistan? Cigánien? Cigáungarn?
Wir hören, Wahlen lassen sich hier mit dem Geschenk von 5kg Kartoffeln und Brot gewinnen, und dem Versprechen, jeden vor den „bösen Anderen“ zu beschützen. Die bösen Anderen, das sind die Flüchtlinge, von denen freilich noch niemand je einen gesehen hätte, geschweige denn mit ihnen zu tun hat. Auch im Mikrokosmos vieler Dörfer, erzählt Elizabeth uns, gibt es Strukturen, in denen die einen die anderen beschützen. Und: jeder der schützt, will dafür natürlich auch gewisse Gegenleistungen, gerne in Cash auf die Hand. Nur: Geld, das erfahren wir auch im Rahmen des Festivals, ist überall Mangelware – eine ungarische Cigány Theatergruppe tourt während der Tage sogar durch die Dörfer, um ein Stück zum Thema „Schulden“ aufzuführen und den Menschen klarer vor Augen zu führen, welche Abwärts-Spiralen damit in Gang gesetzt werden können.
Das, was uns geschildert wird, wirkt wie eine Welt innerhalb der Welt; es werden Regelsysteme und Kreisläufe schemenhaft erkennbar, die für uns nicht durchschaubar sein können, die jedoch die von uns besuchten Kinder dort umso deutlicher betreffen, wo es in den Dörfern schon lange keine Bibliotheken, Kultureinrichtungen oder gar Schulen gibt. Nun wäre naheliegend, Transporte in umliegende Dörfer zu organisieren, jedoch: Autos zum Transport sind kaum zu sehen oder verfügbar, und in Bezug auf das öffentliche Transportsystem beantwortet Google Maps die Frage der zeitlichen Dauer von Ort X nach Ort Y (20km) wie folgt: Fährt man mit Busverbindungen, ist man gut 7 ½ Stunden unterwegs, geht man zu Fuß, ist man nach 5 Stunden da. Erstaunlich ist: sogar viele Kirchen sind verlassen. Gäbe es nicht die eine oder andere Hilfsorganisation, die in manchem Dorf die Kinder unterstützt, wirkt es so, als ob sich hier niemand um die Menschen kümmern würde.
Zu Buche stehen in Ungarn insgesamt 1300 Dörfer, in denen einen Steinwurf weit von der Hauptstraße, oder gleich als gesamt-„Kunstwerk“ slumartige Zustände zu sehen sind. Wenn man über den Daumen 100 Menschen pro solche Ansiedlung schätzt, sind das etwa 150000 Menschen, die unter weit weniger als bescheidenen Zuständen hausen müssen. Anders kann man das nicht beschreiben.
Die Kinder sind aber immer noch Kinder – sowohl in Alsovadazs als auch Szakacsi, insgesamt haben wir heute gut 120 Zuschauer – schon, wenn wir ankommen, umringen sie neugierig unseren Wagen und reden laut und durcheinander auf uns ein. Jedes Mal äußerst inspirierend ist ihre wilde Aufgewecktheit, die zwar jederzeit äußerst chaotisch werden kann, sich aber sehr gebannt sammelt, sobald die Show beginnt. Mehr als offensichtlich haben sie Spaß daran, wenn sich zwei Clowns, die aus ihrer Perspektive zu den Großvätern gehören, in ihren Unzulänglichkeiten überbieten und einander mit gemeinen Tricks reinzulegen versuchen. On-Stage versuchen Hagyma (Zwiebel) und Paprika bestmöglich herauszufinden, an welchen Stellen das Lachen besonders befreit. Hagyma übrigens kämpft noch mit seinem auf Ungarisch unaussprechlichem Namen. Paprika freut sich, weil er davon profitiert, sofort identifizierbar zu sein.

Mitten im Rand der Gesellschaft...

20.08.2020

…so fühlt es sich an, auf dem Open Air Konzert heute Abend in Kazsmark auf dem Hof einer Schule. Zusammen mit ein paar hundert Cigány aus dem Borsod-Abauj-Zemplen Distrikt lauschen wir und tanzen wir zu dem treibenden Rhythmus einer großartigen Band. Es gibt eine Art Tanzkessel, in denen die Tänzer von den Zuschauern umrandet sind. Die junge Generation gibt sich dort „Dance-Battles“ wie im Hip Hop, zwischendurch tanzen auch die Frauen und Kinder.

Ein paar Stunden zuvor spielten wir auf dem gleichen Pausenhof eine gut besuchte Vorstellung. Heute passierte uns, was wir nur von Kollegen aus anderen Blogs kannten – mitten in der Show kamen zwei der Organisatoren auf die Bühne und hielten uns ein Glas Wasser zur Erfrischung hin. Als wir dankend ablehnten, mischten sie sich kurzerhand ins Publikum, um Wasser an die Kinder auszuteilen. Es kam wie es kommen musste; jede Aufmerksamkeit Richtung Bühne war dahin und es dauerte Minuten, bis wir weiterspielen konnten.

Die Bilder aus den letzten Tagen verweben sich immer mehr, eine Woche ist keine lange Zeit, es dauert bis ich überhaupt verstehe, wo ich hier gelandet bin. Die Gegend ist sehr grün, viele Bäume unterschiedlichster Art, Sonnenblumenfelder, ab und an Mais, dünn besiedelt das Land, viele Vögel, nachts eine Unzahl von Insekten an den Straßenlaternen.

Die Dörfer, langgezogen an den Straßen, sind für mich kaum voneinander zu unterscheiden. Das Klima ist erstaunlich feucht. Und die Leute? Vieles geschieht gemächlicher, die Menschen haben mehr Zeit sich zu begegnen, doch weniger Möglichkeiten, zum Beispiel ist für viele das schmale öffentliche Transportsystem kaum erschwinglich. Besonders schwierig ist es für Jugendliche, diese Barriere zu durchbrechen. Reisefreiheit ist ein hohes Gut, sie zu nutzen ist für uns etwas Selbstverständliches, hier bedeutet es meist loszuziehen mit geringer Bildung in ein wirkliches Abenteuer.

Heute Vormittag spielten wir in Csenyete vor etwa 70 Kindern. Zum ersten Mal fand die Vorführung in geschlossenem Raum statt. Auch hier bogen sich die Kinder vor Lachen, die offensichtliche Unbeholfenheit von ausgewachsenen Menschen erfreut die Kinder auf der ganzen Erde sichtlich.

Csenyete hat die bescheidene Berühmtheit, das ärmste Dorf Ungarns zu sein. Es liegt nahe der slowakischen Grenze in einem Hügeltal. Die Häuser sind oft in erbärmlichen Zustand. Wir trafen dort Norbi, er ist Spezialist für Agrikultur und arbeitet für den Maltheserorden. Er versucht den Menschen in den umliegenden Dörfern beizubringen, ihr eigenes Gemüse zu pflanzen. Sicher eine gute Idee, die Frage bei solchen Projekten ist immer wieder, ob nicht die herrschende Lethargie die Bemühungen zu Nichte macht. Es wird klarer und klarer, etwas ist hier nicht seit gestern am Werk. Es ist eine lange Geschichte, die die einst stolzen Pferdezüchter und Handwerker an den Rand der Gesellschaft drängt.

Eine kleine Begebenheit am Rande. Wir fuhren durch irgendein Dorf und sahen einen wahren Pulk von Leuten mit großen Besen unter einem Baum rasten. Auf unsere Frage, was dieses Aufgebot in einem so kleinen Ort bedeutet bekamen wir folgende Antwort von Viki, unserer Logistikerin und Übersetzerin: Die Regierung hat in der letzten Zeit ein Programm etabliert, das die Straßen und Plätze von Müll befreit. Um das Programm zu etablieren, werden Dorfbewohner rekrutiert, für eine Art Miniminijob. Die Folge sind nicht nur reine Teerflächen, es werden auch die Arbeitslosenstatistiken bereinigt.

Jetzt ist es bald, wie jeden Abend, höchste Zeit die Bettdecke über die vielen Eindrücke zu ziehen, damit sie darunter verarbeitet werden.

Andreas

Gepostet am

29.08.2020