Abreise aus der Türkei 31. Mai
Ich sitze mit meinen Mitrei(tz)senden im Boot, diesmal einem kleineren, von Bursa zurück nach Istanbul. Dann ab in den Flieger und heute Abend in mein eigenes Bett.
Der Blick aus dem Fenster in einem geschützten, klimatisierten Raum. Die Menschen um mich herum entspannen, genießen den Ausblick. Die Sonne scheint. Das Wasser blau.
Was, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, in Deutschland geboren zu werden, in einer herzlichen und warmen Umgebung aufgewachsen mit Werten, Hoffnung, Glauben, Zuversicht?!
Was, wenn ich, wie unser syrischer Freund mitsamt seiner Frau und den 3 Kindern zu Fuß von Aleppo in die Türkei über die Berge hätte laufen müssen, nachdem nicht nur die tägliche Angst vor Bomben, sondern auch die Flucht meiner Freunde mich allein zurück lassen!?
Er zeigt mir sein Feuerzeug an dessen Boden sich eine kleine Taschenlampe befindet. Er sagt, das war auf der Flucht das wichtigste was er hatte. Um den Weg zu finden, sich im Dunkeln noch weiter auf den Weg in die Türkei zu machen, die als sicherer erscheint.
In Syrien spielte er mit im „Theater der Unterdrückten“ mit Kindern, hat bis vor 9 Monaten noch alles versucht, um dem Ort und den dort lebenden Menschen, woher er kommt, etwas Schönes zu geben.
Dann bricht er doch auf, lässt alles zurück. ALLES! Bis auf seine Familie mit den bezaubernden Kindern. Die beiden älteren Töchter sprechen sehr gut englisch, sind so lebensfroh und lebendig. Kaum zu fassen, was sie in ihren jungen Jahren schon erlebt haben.
Und nun sind sie in Bursa, versuchen hier ein Leben aufzubauen, verfolgen die politische Situation in der Türkei. An ein Weiterziehen ist erst mal nicht gedacht. Er ist froh, nicht jeden Tag um sein Leben und das seiner Familie zu fürchten. Es gibt kein Gut oder Schlecht hier in der Türkei für ihn. Einfach nur hier sein. Das ist alles was zählt.
Wir sind jetzt mitten auf dem Meer.
Was, wenn ich auf einem Flüchtlingsboot sitzen müsste, weil ich dort wo ich herkomme nichts mehr machen kann, als um mein Leben zu fürchten?
Ich habe noch so viel vor im Leben! Soll ich resignieren und mich meinem Schicksal mit all der gefühlten Lähmung hingeben?
Sollte ich so tun, als bekäme ich nichts von den Machenschaften der Oberen mit?
Ich kann ja sowieso nichts ändern… Man gehorcht, nimmt die Gesetze hin, sitzt es aus, hofft auf eine Wandlung, die ohne Gewalt angestrebt wird, basierend auf Wertschätzung, Achtung und Respekt voreinander.
Der Wunsch der Frauen nach Unabhängigkeit ist auch für arabische Frauen ein angestrebtes Ziel. Zumindest von den Frauen, die wir erlebt haben und von denen auch unser syrischer Freund in Syrien berichtet hat.
Überhaupt diese Mann / Frau Geschichte:
Ach, eine Auseinandersetzung damit findet jeden Tag aufs Neue statt. Für mich noch um ein Vieles mehr, wenn ich hier in der Türkei bin – und das gerade mal für eine Woche.
Mit welcher Wucht ich dieses Mal die Diskrepanz erfahren habe macht mich ehrlich gesagt sprachlos. Weniger im Großen, eher im Kleinen.
Es fällt mir dieses Mal, bereits während der Reise, noch mehr an deren Ende, schwer, meine Worte zu zügeln und zu fassen. Ich bin hier für „Clowns ohne Grenzen“ unterwegs, habe das unglaublich große Glück solche Erfahrungen machen zu dürfen, unsre Mission, das mit dem Lachen nämlich, weiter in die Welt zu tragen.
Dennoch: Ich heiße und bin Miriam, die sich das alles anschaut und anhört. Die Grenzen verschwimmen.
Die vielen, vielen Gespräche mit den hier lebenden Menschen und deren müden Augen zu sehen, beschwert mich. Immer noch ist da ein kleiner Funke Hoffnung, aber er wird irgendwie weniger. Sowohl bei ihnen als auch bei mir.
Unterschiedlich Ansätze werden versucht und unternommen, nichts wird unversucht gelassen durch Kunst, Theater, Musik und Bildungsangebote, dem Menschen an sich eine Möglichkeit zum Ausdruck zu ermöglichen, seinen Gefühlen und Gedanken Ventile zu schaffen.
Der Mensch macht und tut und schafft und zerstört und liebt. Alles gleichzeitig.
Die Härte in vielen Augen auf der Straße löst sich erst nach mehreren Versuchen und Bekundungen von ehrlicher Zugewandheit über die Augen und Körpersprache auf. Immer wieder gebe ich mir einen Ruck, auch wenn ich selbst bereits müde bin.
Immer einen, nein, zwei Schritte mehr gehe ich auf mein Gegenüber zu, und dann bewegt sich etwas zwischendrin.
Was, wenn ich selbst keine Kraft mehr habe und nur noch schlafen, mich hinlegen will, weil mich die Sonne zu sehr angestrengt und die zu kurze Nacht meine kräftigen Schultern einfallen lässt?!
Jeden Tag aufs neue, verdammt nochmal. Ein- und ausatmen. Ja. Bei mir bleiben und bei dem anderen. Ja. Es ist so schwer und einfach zugleich. Mannometer!
Es lähmen mich die Erkenntnisse jenseits meiner Clownsnase der letzten Woche.
Der gestrige Tag mit unseren letzten Shows hat mich zum Glück von meiner Lähmung etwas befreit. Da waren so unendlich viele Hände, Kinder und das laute Lachen, Kichern und Klatschen. All das, was wir auf solch einer Reise so sehr brauchen. Das ist unser Puffer, mein persönliches Schutzschild vor der Welt, die sich außerhalb von den Kindern und Erwachsenen und mir/uns befindet. Wenn es das nicht gäbe, das miteinander Lachen, dann würde das System (meines zumindest) zusammenbrechen.
Unser Boot kommt voraussichtlich in 30 Minuten in Istanbul an.
Erst letztes Wochenende hatten knapp an die 700 Menschen ebenfalls vor, sicher auf festem Boden anzukommen – die Zahl ist wahrscheinlich hinfällig, denn wir bekommen nicht alle gekenterten Boote mit Flüchtlingen mit.
Sie haben es nicht überlebt.
Was, wenn ich unter den Opfern wäre? Der Aufschrei und Schmerz meiner Familie und Freunde wäre sicher groß. Wohin damit? Wen kann man dafür verantwortlich machen, dass ich überhaupt diesen Weg gehen musste?
Ja klar: Es war meine Entscheidung aufs Boot zu steigen. Was hat mich dazu getrieben?
Lebenswille, Liebe? Mut und Hoffnung auf bessere Zeiten?
Womöglich von allem etwas.
Wir legen an. Unser Boot landet im sicheren Hafen.
Wir hatten eine satte Woche mit tollen neuen Menschen, denen wir, vor nicht einmal einer Woche noch fremd waren. Es hat uns an nichts gefehlt. Wir hatten genug Geld zur Verfügung gestellt bekommen, um uns ausreichend zu versorgen.
Wir wissen und spüren, dass wir hier jederzeit Willkommen sind. Immer und immer wieder wird betont, dass jeder Einzelne von uns jederzeit zu Besuch kommen darf. Auch ohne rote Nase. Welch ein Geschenk!
Unbezahlbar und unvergesslich bis zum Schluss.
Kurz bevor wir in Istanbul in das Flugzeug steigen, kommt ein türkisch aussehender Mann auf uns lächelnd zu und fragt: „Seid Ihr die ‚Clowns ohne Grenzen‘?“ Wir stutzen.
Er sah sich HAPPY WELCOME, die Dokumentation über unsere Reise, vor exakt einem Jahr im Dezember 2015 in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen an und hat uns wieder erkannt. Mannometer!